Das Wichtigste? Gesundheit! Mental Health in der Musikbranche
Dipl. Psychologin Anne Löhr über besondere Belastungen und Möglichkeiten in der Musikindustrie
Lasst uns über Gesundheit reden! Und zwar nicht die körperliche. Immer mehr Musiker:innen sprechen öffentlich von mentalen Erkrankungen, von schwierigen Zeiten und Therapie. Und das ist auch gut so. Denn dieses Thema muss öffentlich besprochen werden, um ihm die Stigmatisierung zu nehmen. Wir haben mit der Mitbegründerin eines Verbandes gesprochen, der sich für Mentale Gesundheit in der Musikindustrie einsetzt: Anne Löhr.
Anne Löhr ist Psychologin und arbeitet seit 2015 freiberuflich als Beraterin, Coach und Dozentin in Berlin. Sie arbeitet mit Einzelpersonen und Teams vor und hinter den Kulissen der Musikindustrie. Ende 2019 gründete sie den Verband Mental Health in Music und setzt dort ihre Arbeit fort. Aufklärung, Entstigmatisierung von vermeintlicher Schwäche und eine gesunde Work-Life-Balance sind nur einige ihrer Themen. Als Musikerin ist sie außerdem in diversen Netzwerken tätig.
Hey Anne, du bist Mitbegründerin von „Mental Health in Music“. Kannst du uns bitte erklären, was die Aufgabe des Verbandes ist und warum ihr ihn gegründet habt?
Ich bin als Psychologin, Therapeutin und Beraterin schon länger in der Musikbranche unterwegs. 2019 bin ich dann zufällig auf diversen Musikevents auf zwei andere Musiker:innen gestoßen, die wie ich Psycholog:innen sind und ebenfalls beide Expertisen in ihrer Arbeit verbinden. Weil wir wissen, wie wichtig das Thema mentale Gesundheit in der Branche ist und wie wenig die meisten Menschen darüber sprechen bzw. wissen, haben wir uns kurzerhand dazu entschlossen, unseren Verband, den MiM (Mental Health in Music), zu gründen.
In Deutschland stecken wir da noch in den Kinderschuhen. In Großbritannien zum Beispiel gibt es seit vielen Jahren einen Verein, den „Help Musicians UK“, der sich um die psychische Gesundheit von Musiker:innen kümmert. 2016 veröffentlichte dieser Verein auch die MAD-Studie „Music and Depression“. Eine der sehr wenigen Studien, die die signifikant hohe psychische Belastung der Akteur:innen in der Branche aufzeigt: Ca. 70% aller dort befragten Musikschaffenden berichten von Erfahrungen mit Depressionen und Ängsten im Zusammenhang mit ihrem Beruf. Das ist eine unglaubliche Zahl und sie ist weitestgehend unbekannt.
Uns geht es mit der Gründung unseres MiM-Verbands also auch darum, die Sichtbarkeit von diesen Problemen zu ermöglichen. Wir wollen aufklären, vermitteln, helfen. Anlaufstelle für die Branche sein, bei der man Informationen und Hilfe suchen und finden kann. Neben unseren Angeboten an Workshops und Beratungen, findet man bei uns auch Literatur, Artikel, Podcasts und Videos zum Thema. Und wir haben als Verein auch noch einmal detailliert zusammengefasst, wo man welche Hilfe findet und an wen man sich im Bereich Beratung, Psychotherapie und psychiatrischer Hilfe wenden kann.
Wir hoffen, damit einen Weg durch den „Psycho-Dschungel“ zu ermöglichen und zu erleichtern. Dank der Mithilfe der Fördereinrichtungen in Berlin und Hamburg „Rockcity“ und „Musikpool“ können wir gefördert Erstberatungen anbieten, um hier weiterzuhelfen. Das ist ein erster, niedrigschwelliger Zugang zum Hilfesystem, der für viele sehr erleichternd ist. Vor allem, weil wir eben nicht nur die „Psycho-Welt“ verstehen, sondern auch die Musikwelt. Das ist für Musikschaffende ebenso hilfreich wie für Mitarbeiter:innen von Labels und Bookingagenturen sowie Veranstalter:innen. Wichtig für unsere Beratung ist das Zusammenspiel von Individuum und der Branche.
Die Musikindustrie hat unter der Pandemie besonders gelitten und tut es immer noch. Worin siehst du die „normalen“ Unwägbarkeiten und mögliche Beschwerlichkeiten, die der Beruf schon immer mit sich zu bringen scheint?
Die Pandemie hat deutlich gemacht, dass psychische Belastungen aus dem Zusammenspiel von Individuum und Kontext entstehen. Wenn also jemand aus der Musikbranche an Stress, Ängsten und Depressionen leidet, dann kann man sein/ihr Arbeitsumfeld nicht ignorieren, wenn es um psychologische und therapeutische Hilfen geht. Genauso wenig, wie man zurzeit ignorieren kann, dass die Auswirkungen der Pandemie in all ihren Facetten zur psychischen Belastung aller beitragen – für jede/n auf unterschiedliche Art und Weise und mit unterschiedlicher Stärke.
Wen es besonders hart trifft, der ist nicht „schwach oder verrückt“.
Was ich damit sagen will: Wen es besonders hart trifft, der ist nicht „schwach oder verrückt“. Die betreffende Person ist nur aus der Balance geraten. Und genauso kann auch die Balance in der Musikbranche aus dem Ruder geraten. Das geht so easy. Vor allem bei den folgenden Punkten: Wenn ein hoher Erfolgsdruck besteht oder die Abhängigkeit und Unwägbarkeit von Glück in Bezug auf Erfolg einem zusetzt. Oder das öffentliche Feedback durch die Sozialen Medien einen umhaut. Oder auch, weil es schlichtweg keine Planbarkeit für andauernden Erfolg gibt. Selbst wenn ein Artist ein hammer Album gemacht hat – niemand kann den Erfolg garantieren.
Es heißt immer wieder: Auf ein Neues! Das ist unglaublich belastend für die Psyche. Denn ein/e Künstler:in kann sich keine Referenzen in dem Maße aufbauen, wie jemand, der/die in einem „normalen Job“ zuhause ist. Ich nehme zur Veranschaulichung ganz gern das Lehrer:innen-Beispiel. Nach dem Referendariat für das Lehramt fängt der/die junge Lehrerin:in mit seiner/ihrer Arbeit an – erarbeitet sich Routine und Wissen. Sammelt Berufserfahrung und Referenzen. Der Verdienst ist kontinuierlich, Tendenz steigend. In der Musik muss das aber nicht der Fall sein.
Wenn man jung ist, kann das alles easy sein, mit dem ausbleibenden Erfolg oder dem großen Geld. Was passiert aber, wenn der oder die Musiker:in sesshaft werden will, ja sogar vorhat eine Familie zu gründen? Oder was ist, wenn der/die Musiker:in mit Mitte 40 keine Lust mehr hat, jeden Abend in einem Club zu spielen? Da fangen manche Musikschaffende in der Mitte ihres Lebens gefühlt noch mal bei Null an.
Es gibt unglaublich viele Faktoren, die eine besondere Mischung ergeben, wenn es um Stress und Unsicherheiten bei Musikschaffenden geht. Zum Beispiel auch, dass Musiker:in zu sein selten entkoppelt von der eigenen Persönlichkeit stattfindet. Denn Musik machen ist identitätsstiftend. Das Phänomen betrifft aber nicht nur Musiker:innen. Auch beim Booking, Management oder im Label findet man das. Diese Vermischung sorgt dafür, dass Leute im Extremen über ihre eigenen Grenzen gehen. Weil der Wunsch es gut und richtig zu machen nicht einfach um 18 Uhr, mit dem Feierabend und dem Stift weglegen, aufhört. Diese klare Trennung von „Work“ und „Life“ gibt es für viele nicht und ist auch gar nicht erstrebenswert. Weil Beruf und Leben nicht trennbar sind. Trotzdem braucht es eine Balance – man muss lernen mit der Vermischung klarzukommen.
Musik machen ist identitätsstiftend.
Es ist wichtig, eine Akzeptanz dafür zu entwickeln, dass man nicht immer dabei sein kann, wenn etwas Wichtiges passiert. Vor allem nach 17 Uhr. Dann, wenn es normalerweise spannend wird. Ein Begriff, der in letzter Zeit in aller Munde ist, heißt FOMO und beschreibt genau diese diffuse Angst etwas zu verpassen. FOMO – „Fear of missing out“- In diesem Zustand ist der Mensch und in unserem Fall der/die Musikschaffende immer „angeschaltet“, immer wach. Immer aufmerksam für den Beruf, immer kreativ, immer am Vernetzen. Einfach immer daran interessiert und getrieben davon, sich einen Namen zu machen. Gerade am Anfang ist es für die Musikschaffenden ein ständiges Abwägen: Sind das die richtigen Leute? Darf ich diesen Auftrag absagen oder sage ich lieber den lang geplanten Urlaub ab? Sollte ich noch mehr spielen, noch mehr posten? Aber all diese ständigen Fragen können in Stress umschlagen. Wenn man das ein paar Jahre macht, kann der Stress chronisch werden, was wiederum zu körperlichen und psychischen Belastungen führen kann. Das führt nicht selten zu noch mehr Erschöpfung oder Selbstzweifeln. Die Kompensation heißt dann nicht selten: Drogenmissbrauch. Unserem Verein geht es um Prävention. Genau für diesen Fall betreiben wir unsere Aufklärungsarbeit.
Was hat euer Verband als nächstes vor?
Viel! Wir stecken natürlich noch in den Kinderschuhen – und die Pandemie hat unsere anfänglichen Pläne ganz schön durcheinandergeworfen. Aber das ist nicht schlimm. Wir konnten mit unserer Arbeit gerade jetzt hilfreich sein, was uns sehr freut. Wir haben 2020 unglaublich viele Workshops über „mentale Gesundheit in der Krise“ gegeben. Die Nachfrage war riesig, weil die Pandemie und ihre Auswirkungen ja gerade die Musikbranche hart getroffen hat. Unser Verband kam da gerade richtig und die Aufmerksamkeit auf unsere Arbeit war von Anfang an da.
Aber natürlich haben wir eine lange Liste voll mit Ideen für unsere zukünftige Arbeit. Eine zweite Krise, nämlich die rund um die Frage, wie man den Arbeitseinstieg nach der Pandemie wieder schaffen soll, geht gerade los. Wir wollen Akteur:innen der Livebranche professionell schulen, um Festivals und Konzerte für Musikschaffende sicherer zu machen. Sogenannte „Safe-Spaces“ zu ermöglichen. Und da es ja in der Kombination Musik und Psychologie nicht nur uns drei in Deutschland gibt, wollen wir unser Netzwerk natürlich auch vergrößern!
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2015 hast du dich selbständig gemacht. Auf deiner Seite steht, dass du systemisch arbeitest – Was können wir uns darunter vorstellen?
Es gibt unterschiedliche Ansätze, wie man psychische Belastungen bzw. psychisches Leid heilen kann. Von diesen vielen Therapieformen zählen in Deutschland vier zu den kassenärztlich anerkannten psychotherapeutischen Verfahren. Die Verhaltenstherapie, die Tiefenpsychologie, die Psychoanalyse und seit einigen Jahren auch die Systemische Therapie.
Die Systemische Therapie ist sehr lösungs- und ressourcenorientiert. Und vor allem, wie der Name impliziert, betrachtet man den Menschen in seinem Umfeld, in seinem System. Die systemische Therapie geht davon aus, dass eine Person sich nur verändern kann, wenn das System sich mitverändert bzw. Veränderung zulässt. Das kann ein Paarsystem sein, ein Familiensystem oder eben auch ein Organisationssystem. Ich kann einer Person, die überarbeitet ist, nicht sagen, sie soll einfach um 18 Uhr nach Hause gehen. Ihre Kolleg:innen werden darauf reagieren. Arbeit wird sich aufstauen oder nicht erledigt werden, was ihr dann in punkto Loyalität gegenüber den Kolleg:innen oder aber auch Kund:innen, Arbeitsbewertung usw. auf die Füße fallen wird. Veränderung ist komplex.
Die Systemische Therapie setzt viele Impulse. Stößt Veränderungen an, verändert Perspektiven. Ich finde es ist eine sehr kreative, interessante und auch humorvolle Arbeitsweise. Sie passt zu den vielen kreativen und erfahrungsoffenen Akteur:innen des Business‘. Und sie setzt besonders, in Bezug auf die meiner Meinung nach nötigen Veränderungen in Gesamtsystem, wichtige Impulse. Im Rahmen von arbeitsbezogenen Beratungen wird oft nur in eine Richtung gedacht: Nämlich, dass es die Verantwortung eines jeden Einzelnen ist, im Beruf klarzukommen.
Die individuelle Anpassung an Rahmenbedingungen wird als Selbstoptimierung verkauft und wer da an Grenzen stößt, wird selbst haftbar und schuldig gesprochen. In der Musikbranche ist das weit verbreitet. „Du hast es eben nicht geschafft. Wenn Du das nicht abkannst, ist es dein Pech.“ Personen erleben sich selbst dann nicht selten als gescheitert, ungenügend und am Ende ausgebrannt. Das ist schade, denn wofür wir alle antreten, nämlich die Musik, spielt in vielen Fällen plötzlich eine untergeordnete Rolle. Die Akteur:innen der Branche müssen sich bewusstwerden, dass sie als Teil der Branche eben diese auch mitgestalten. Besonders Personen in leitenden Positionen sollten sich bewusst sein, dass ihre Arbeitskräfte und ihre Musiker:innen schützenswert sind. Aber was ich gerade, zumindest in meiner Bubble, miterlebe ist, dass es hier durch die Pandemie ein Umdenken gibt, was ich sehr begrüße.
Was sind die typischen Anliegen, die Menschen aus der Branche zu dir führen?
Es geht viel um Überforderung und darum, die eigene Leidenschaft für den Beruf und das Business mit den eigenen Grenzen und dem erlebten Wohlbefinden in Balance zu bringen. Es geht um Neuorientierungen, Konflikte, Zweifel. Darum, dass man sich selbst leicht „verlieren kann“ in der Schnelllebigkeit des Business. Es geht um die Vereinbarkeit von eigenen Wünschen und denen des Berufs.
Stress reduzieren, Ängste anschauen, Krisen begleiten lassen. Und der Umgang mit Social Media wird immer öfter Thema. Bzw. das Feedback, mit dem Personen die in der Öffentlichkeit stehen, umgehen müssen. Die eigenen Befindlichkeiten haben im Beruf oft keinen Platz – Freundschaften sind oft auch an kollegiale Verhältnisse geknüpft, was es in besonders belastenden Zeiten schwierig macht, sich anzuvertrauen. Dafür gibt es Raum in der psychologischen Beratung.
Was müsste deiner Meinung nach noch passieren, damit das Thema „Mental Health“ die Aufmerksamkeit kriegt, die es braucht?
Zuallererst: Wir sind auf einem sehr guten Weg! Es wird vermehrt über die psychischen Belastungen gesprochen, das Thema wird entmystifiziert. Berühmte Leute bekennen sich zu ihren psychischen Krisen und Krankheiten. Diese Entstigmatisierung tut uns allen gut.
Sehen wir uns zum Beispiel unseren Megastar Billie Eilish an. Sie sagt, „Ich bin krank. Na und. Das gehört zu mir. Und ich lasse mir helfen. Das sollte jeder. Ich finde jede/r sollte eine Therapie machen“. Das ist neu und das ist richtig, weil es Akzeptanz schafft. Erst kürzlich haben in der Zeitung Die Zeit viele Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, von ihren psychischen Krankheiten gesprochen. Nicht dramatisierend, sondern normalisierend. Das ist sehr wichtig. Psychische Belastungen und psychischen Krankheiten sind etwas Natürliches. Wir haben nun einmal eine Psyche, genau wie wir einen Körper haben und der tut auch ab und zu mal weh oder muss von Expert:innen behandelt werden.
Wir haben eine Psyche, genau wie einen Körper – und der tut auch ab und zu mal weh oder muss von Expert:innen behandelt werden.
Diese Normalisierung unserer psychischen Verwundbarkeit ist durch die Pandemie auch ein gutes Stück vorangetrieben worden. Menschen emanzipieren sich in diesem Bereich und das wird kein kurzer Trend sein, sondern der Beginn von ganz wichtigen, guten Veränderungen. Wer sich für das Thema mentale Gesundheit in der Branche nicht interessiert, wird das Nachsehen haben. Da bin ich mir sicher.
Wir danken Anne Löhr für ihren Input und das Gespräch, dass wir im Sommer 2021 durchgeführt haben.